• 16./17. Jan - Shire

    Dort kommen wir am Nachmittag an und checken ins Gibtsayt Hotel ein, also Mehrtab und ich. Helen und Haben kommen anderweitig unter. Ebenfalls eine schlichte Herberge im LAS local african standard. Ich richte mich ein, dann ist Siesta bis wir abends noch mal rausgehen zum Abendessen.

    Unmittelbar gegenüber vom Hotel, also ein wenig Klischeebestätigung ist das schon.

    Am nächsten Tag sind wir wieder einmal eingeladen. Heute bei einer Schwester von Senayt, die in Shire lebt. Gegen Mittag sind wir dort und werden in eine gemütlich eingerichtete kleine Wohnung gebeten. Es gibt zu essen und zu trinken satt.

    vorn Mitte Dulet - aus Magen

    Nach zwei Stunden brechen wir wieder auf. Zur Hauptstraße von Shire laufen wir vor, um uns die Füße zu vertreten.

    Dann steigen Haben, Mehrtab und ich in ein Tuc-Tuc und fahren in ein abseits gelegenes Wohngebiet mit Wohnhütten. Dort lebt derer beiden Vater. Er war in Shiraro nur zu Besuch, was auch erklärt, warum ich ihn die letzten Tage da nicht mehr gesehen habe. Denn er ist geschieden.

    Er gibt Mehrtab eine Tüte, etwas anderes, was die beiden mithatten geben sie ihm, dann gehen wir noch ein Stück, bevor wir uns verabschieden und zurück ins Zentrum fahren.

    Da treffen wir dann noch einen weiteren Verwandten von Haben, einen Friseur. Jetzt lässt Haben sich aufhübschen bei der Gelegenheit, da sie eh eine Weile quatschen. Danach nimmt uns der Verwandte, ein Cousin mit zu sich nach Hause.

    Ein kleiner Mietbau, eher einem Bunker ähnlich. Wir gehen durch eine Eingangstür, kommen in einen dunklen Innenhof voller Menschen so mein erster Eindruck, gehen in ein schwarzes Loch, das sich als Treppenaufgang aus Beton mit schmalem Treppenabsatz ohne Geländer entpuppt. Als ich da reingehe sehe ich gar nichts, alles dunkel, weil keine Beleuchtung, dazu meine Heliomaticbrille, die so schnell nicht umschalten kann, kommen auf ein oberes Stockwerk und durch eine Tür in eine Einraumwohnung. Dort „wohnt“ er mit seiner Frau und dem bislang einzigen Kind. Die Wohnung ist eingerichtet mit einer Matratze mit Decke, „dem Bett“, einem großen Koffer in einer Ecke, „dem Schrank“, einem kleinen Holzregal mit Vorhang, „der Küche“, einer Wassertonne. Von der Decke spendet eine trübe Lampe ein klein wenig Licht in dieses Loch, wo niemals ein Sonnenstrahl hineinfällt. Es gibt ein Fenster auf den fast ebenso dunklen Innenhof. Die Toilette ist irgendwo anders. Gekocht wird auf dem Obergang, oder im Innenhof, für die die unten wohnen. Lediglich ein kleiner Tisch und das Möbel für die Kaffeezeremonie stehen noch in der „Wohnung“. Ich bin entsetzt. Da leben ja die Völker im Süden besser und die haben schon nicht viel, außer ihrem Vieh. Ich darf auf dem einzig brauchbaren Stuhl Platz nehmen. Die anderen setzen sich auf irgendwas „nicht Stuhl genanntes“ bzw. auf „das Bett“. Nach etwa 30 Minuten gehen wir wieder. Ich wollte das alles eigentlich fotografieren, aber dann hätten die Bewohner vorher rausgehen müssen. Es wäre einfach entwürdigend, sie SO in dieser Umgebung abzulichten. Dann lieber nicht. Wir gehen die Treppe hinunter. Ich kann jetzt sehen, die Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. Als ich aus dem Treppenaufgang in den Innenhof trete, rinnt mir irgendein Abwasser, welches oben wohl ausgegossen wurde auf den Kopf und hinten den Rücken hinab. Mich schüttelt es. Nur raus hier. Wie kann man SO leben? Diesen Satz hatte mein Freund Muller letztes Jahr fast genauso gebraucht, als er bei den Banna in der zweiten Nacht zu mir in diese Rundhütte zog und die La Cucarachas entdeckte. Hätte ich vor der Wahl gestanden, in den Bunker oder zu den La Cucarachas zu ziehen, ich hätte die Rundhütte vorgezogen.

    Der nächste Tag, ein weiteres Treffen. Freund Mehrtab ist mit einem seiner Lehrer von damals verabredet. Wir treffen uns in einem Lokal und sie essen Frühstück. Ich hatte meines schon zeitiger und habe keinen Hunger. Das Treffen währt nur kurz, der Lehrer hat noch Termine.

    In Shire wird heute der Selassie-Tag begangen, ein Feiertag für die Stadt. Anlässlich dieses Ereignisses gibt es eine Laufveranstaltung und die Hauptstraße ist teils gesperrt. Händler haben ihre Stände aufgestellt und bieten allerhand feil. Mich interessieren die Laufshirts. Die sehen klasse aus und haben gefühlt eine gute Qualität. Haben und Mehrtab haben sich jeder eines gekauft. Ich versuche auch zwei zu bekommen, aber meine Größe gibt es nicht. Die größte Ausführung ist in XL zu haben. Wobei die XL hier einer M oder einer klein ausfallenden L in Deutschland gleichkommt. Die Äthiopier sind ja größtenteils eher dünn geraten, aber ich mit meinem Schwarzeneggerkreuz komme da nicht rein, keine Change.

    Mitten auf der Piassa, dem zentralen Platz in Shire mit dem Kreisverkehr und der Statue von Major General Hayelom Araya erwischt mich dann ein OFF. Ich posiere noch mit einer Gruppe Teenager in Laufshirts für Selfies, da merke ich es kommen. Mehrtab und Haben kommen gerade mit ihren eben erworbenen Shirts zurück, ich habe es mir auf dem Bordstein bequem gemacht. Als ich aufstehe und hinter die beiden herlaufe, merke ich bereits, das wird nichts. Zu viel Gequirle vor mir und neben mir, die Blockade kommt und die Füße stehen. Aber einen Supertanker kann man nicht plötzlich stoppen. Oben habe ich noch Schwung. Mit ein paar Tippelschritten kann ich das noch kurz ausgleichen, rufe aber schon nach vorn zu Mehrtab. Der sieht das Malheur und beide kommen sofort und bewahren mich vor dem Umkippen nach vorn. Tolle Wurst, ein Freezing gerade hier, wo alle gucken. Wir verdrücken uns ins nicht weit entfernte Hotel, wo ich mich erst einmal wieder aufpäppele. Zum Abendessen bin ich wieder fit.

    auch hier wieder Tigrayhilfe

  • Als ich aufstehe und hinter die beiden herlaufe, merke ich bereits, das wird nichts. Zu viel Gequirle vor mir und neben mir, die Blockade kommt und die Füße stehen. Aber einen Supertanker kann man nicht plötzlich stoppen. Oben habe ich noch Schwung. Mit ein paar Tippelschritten kann ich das noch kurz ausgleichen, rufe aber schon nach vorn zu Mehrtab. Der sieht das Malheur und beide kommen sofort und bewahren mich vor dem Umkippen nach vorn. Tolle Wurst, ein Freezing gerade hier, wo alle gucken.

    Wie gut, dass du in Begleitung warst. Ich wüsste nicht, was ich hätte tun können, wärst du mir in dem Zustand auf der Straße begegnet. OK, aber das hättest du mir ja sagen können.

    "Your soul was born in India!"

    (Vinod zu mir in Gujarat im März 2023)

  • Das meine ich auch. War schon gut und richtig, die Entscheidung, eine begleitende Reise zu machen. Wenn ich dann trotzdem einmal was allein unternehme, heißt es: Vorher abschätzen, wie lange und wie weit kann ich mich rauswagen und wie schnell bin ich ggf. wieder in sicheren Gewässern. Bis März 23 war es nur die zunehmende Unbeweglichkeit. Mit der ließ es sich umgehen. Dieses sch... Freezing ist echt nervig.

  • Ich muss sagen, der Bericht ist richtig spannend, was für ein Glück, dass die Begleiter zur Stelle waren. Wahnsinn diese Reise, ich denke, ich wäre nicht so mutig.

    Bin gespannt, wie es weitergeht.

    Viele Grüße
    Petra

  • Viel geht da nicht. Chemie einwerfen und an nem ruhigen Ort in bequemer Lage warten, dass es vorbeigeht.

    An unruhigen öffentlichen Orten gehts dann nur mit Begleitung als Sturzprävention.

    Also Laufen geht noch ein bisschen mit Unterstützung und dann geht es darum, dass deine Nerven sich mit möglichst wenig Input wieder sortieren? Denken und Sprechen bleiben klar, sodass du jemandem, der dir helfen will, sagen kannst, was du hast und brauchst?

    "Your soul was born in India!"

    (Vinod zu mir in Gujarat im März 2023)

  • Äähmm, Satz 2 ja.

    Satz1 nee, anders. Laufen geht, von Blockade zu Blockade. Das können 50m am Stück sein oder nur einige Schritte. Je nachdem, was die nächste Blockade auslöst. Das sind z.B. querlaufende Leute vor mir, da reicht ein einziger. Enges Gewusel (Aida, Buffett und Restaurant). Verengungen im Laufbereich, wie eine Tür oder sogar einfach nur optische Auslöser, wie quer zur Laufrichtung verlaufende Teppichmuster oder Bodenfliesenfarben. Die Unterstützung beschränkt sich rein darauf, bei den Blockaden stützend zur Stelle zu sein. Also eine Hand, wo ich zugreifen kann. Ich muss mich bewusst zwingen 100% auf das Gehen konzentrieren. Da stört jeder ablenkende Faktor. Rucksack in der Hand, geht nicht. Rucksack auf dem Rücken, geht nicht. Koffer an der Hand hinter mir herrollen, geht nicht.

    Habe es ja gerade durch. Ein fettes OFF bei der Einreise in FFM am Flughafen. Aus dem Flugzeug raus ging noch einigermaßen. Dann wurde es immer schlechter, ich musste Mehrtab mein Handgepäck geben. Mit dem Teil hatte ich die Blockaden alle paar Meter. Gepäckband, Koffer, das musste alles er machen. Zum Glück gab es die Gepäckwagen. Und zum Glück hatte ich seine Begleitung. Ohne ihn hätte ich auf dem Airport festgesessen. Ich habe mich dann von Gang zu Gang geschleppt, durch die Passkontrolle durchstolpernd. Beim Zoll am grünen Kanal hamse mich gefragt, ob ich Hilfe brauche. Irgendwann hatten wir es dann mit Gepäckwagen bis zum Bahnsteig Regiobahnhof geschafft.

    Dieser Zustand geht nicht von allein weg. Im OFF bin ich so lange, bis meine Chemiebomben, den Dopaminspiegel in der Rübe wieder in den therapeutischen Zielbereich angehoben haben. Das dauert manchmal Stunden. Im vorliegenden Fall hatte ich um 4.00 Uhr im Flieger eine meiner Boosterpillen genommen. Deren Wirkung ließ aber um halb sechs bereits wieder nach. Ich merke das, wenn der Nebel im Kopf zurückkehrt. Da habe ich dann meine reguläre 6.00 Uhr Medikamentation genommen. Mit 0 Wirkung. Um 7.00 Uhr ging ich es dann mit brachialer Gewalt an. Eine weitere Booster, die um halb acht zu wirken begann. Um 8.00 war ich wieder klar. Auf dem Hbf. In FFM konnte ich dann ohne Probleme mit meinem Rucksack auf dem Rücken meine Reisetasche und noch einen von seinen Koffern hinter mir herrollen. Wir hatten ja keinen Gepäckwagen mehr.

    Deswegen darf ich NIE ohne meine Pillen dastehen. Sonst bleibe ich im OFF.

  • diese Symptome/Diagnose + Reiseland Äthiopien, unfassbar, dass Du das wagst !!

    Bin mir nicht sicher, ob ich das Vorhaben bewundere…..

    Ich wünsche ich Dir, dass Du die Reise ohne große Komplikationen überstehst und Dein Freund immer zur richtigen Zeit an Deiner Seite ist.

  • Also muss ich mir das so vorstellen, als ob ich einen Film streame und plötzlich ist das Netz weg und das Bild friert ein?

    Das, was du beschreibst, würde mir absolut Angst machen. Du bist da ja sozusagen "reingewachsen". Aber ich glaube, auch Aida u. ä. würde ich mich vielleicht nicht mehr alleine trauen.

    "Your soul was born in India!"

    (Vinod zu mir in Gujarat im März 2023)

  • diese Symptome/Diagnose + Reiseland Äthiopien, unfassbar, dass Du das wagst !!

    Bin mir nicht sicher, ob ich das Vorhaben bewundere…..

    Ich war mir im Vorfeld auch sicher, reisetauglich biste eigentlich nicht mehr. Schrieb ich ja im Eröffnungthread. Aber nein sagen, habe ich halt auch nicht geschafft. Schließlich stand diese Reise seit 5 Jahren in Lauerstellung. Aber mit Begleitung und meiner bisherigen Landeserfahrung sagte ich mir, müsste es gut gehen. Den Rest erledigt ein klein wenig Glück. Hat im Land hier immer geholfen. Wir haben uns immer irgendwie durchgewurstelt und sind aus jeder Lage heil herausgekommen. Vier Reisen und nicht ein Kratzer.

    Also muss ich mir das so vorstellen, als ob ich einen Film streame und plötzlich ist das Netz weg und das Bild friert ein?

    Exakt.

  • Ich verstehe das absolut. Du kennst Mehrtab seit Jahren, er kennt sich im Land aus.

    Du wirst wissen, ob es dabei "nur" um die Medikamente geht, die du ja gehütet hast wie einen Schatz.

    Und du wirst die Wahrscheinlichkeit einschätzen können, ob du darüber hinaus möglicherweise auf (im Land nicht vorhandene) medizinische Notfallhilfe (sprich: Einen Neurologen oder ein Krankenhaus) angewiesen bist.

    Übrigens habe ich im Kollegenkreis einen Arzt, der irgendwann mal so einen Kurs für Notfallmedizin bei Flugreisen gemacht hat. Der hatte die Info bekommen, dass es beim Überfliegen von Afrika keine Option ist, bei einem Herzinfarktpatienten auf eine Landung zu drängen, da dieser ohnehin nur in Südafrika und (glaube ich) Kairo adäquat behandelt werden könnte, sodass es dann am meisten Sinn ergäbe, nach Europa weiter zu fliegen.

    Kann sein, dass ich das nun nicht ganz korrekt wiedergebe, aber so in etwa war der Tenor des Ganzen...

    "Your soul was born in India!"

    (Vinod zu mir in Gujarat im März 2023)

  • Und du wirst die Wahrscheinlichkeit einschätzen können, ob du darüber hinaus möglicherweise auf (im Land nicht vorhandene) medizinische Notfallhilfe (sprich: Einen Neurologen oder ein Krankenhaus) angewiesen bist.

    Bei der Reisevorbereitung habe ich mir aus dem Netz äth. Fachberichte in Landessprache über die Krankheit heruntergeladen. Einmal ein Video und das andere war ein Link. Von dem habe ich auch die Info über die Anzahl der in ET praktizierenden Neurologen. Für den Fall, das es notwendig wird jemanden verständlich zu machen, was genau ich für Probleme habe. Beides lag zugriffsberei auf meinem Phone und dem Tablet.

  • 18./19. Jan. - Abiy Adi

    Am nächsten Morgen geht es weiter. Nach dem Frühstück räumen wir die Zimmer, meine Reisetasche wird mir heruntergetragen. Mehrtab hat seinen kleinen Reisetrolley. Dann rollen wir sie bis zur Hauptstraße und lassen uns mit Tuc-Tuc zum zentralen Busplatz bringen. Da suchen wir uns dann ein Sammeltaxi in Richtung Abiy Adi, einer Gegend, die Tembien genannt wird, nach dem gleichnamigen Gebirge dort, den Tembien-Bergen. Helen, Haben, Mehrtab, meine Wenigkeit und als weiterer Zahlgast meine Reisetasche, die wieder oben gut durchgelüftet mitfahren darf. Für die 180 km werden wir gute 3 Stunden brauchen. Das Wetter ist schön. Ich darf wieder vorn rechts den Beifahrersitz belegen. Die vorbeiziehende Landschaft abwechslungsreich. Die Fahrt ist angenehm und rasant. Wir werden also recht schnell am Ziel sein oder gar nicht.

    Am Nachmittag sind wir da. Mehrtab und Haben gehen auf Zimmersuche. Helen und ich bleiben in einem Straßenlokal bei Buna. Wir haben ja nirgends vorgebucht. Es wird einfach drauflosgefahren und dann vor Ort wird sich schon was finden. Bei der Zimmersuche und dem Feilschen um den Preis, bleibe ich immer außer Reichweite. Wenn die sehen, ein Ferenji ist dabei, wird das Zimmer automatisch teurer. Als sie die Zimmer haben, kommen sie zurück. Mit Tuc-Tuc lassen wir uns hinfahren und checken ein. Danach ist Siesta. Abends suchen wir uns ein Lokal für das Abendessen, dann ist Tagesabschluss. Dehna idir.

    19. Jan. – Heute stehen wir zeitiger auf. Abiy Adi ist zentraler Ort für touristische Ausflüge zu den umliegenden Felsenkirchen. In Tigray verteilt gibt es einige Hotspots dieser Felsenkirchen, die teilweise nur sehr schwer zugänglich sind. Die Umgebung von Abiy Adi ist ein solcher Hotspot. In den uns umgebenen Tembien-Bergen gibt es einige der bekannten Kirchen und Klöster. Genannt seien hier das Kloster Abba Yohanni, die Gabriel Wukien Kirche, die versteckt Marienkirche Mariam Hibito sowie die beiden Felsenkirchen Emanuel Maibaha und Abba Salama.

    Aber deswegen sind wir gar nicht hier. Wir vier fahren mit dem Tuc-Tuc an den Stadtrand von Abiy Adi in ein Wohnviertel in einer unbefestigten Seitenstraße. Dort steigen wir aus und dann müssen wir in den umgebenden Straßen ein wenig suchen, bis wir finden, wo wir hinwollen. Wir sehen es, als wir die Schlange mit Leuten entdecken, die bereits warten. Vor einem dieser kleineren Wohnhäuser steht eine Anzahl Einheimischer aller Altersgruppen, geschätzt um die 15 Personen. Alte und Greise genauso wie Frauen mit ihren Babys und Kleinkinder. Wir stellen uns dazu. Es hat noch nicht begonnen, erst um 2.30 Uhr a.m. (Hinweis: äth. Lokalzeit).

    Meine afrikanischen Freunde, Familie und Bekannte liegen mir seit langen in den Ohren, geh, mach das, geh dorthin, du wirst wieder gesund, ganz bestimmt du wirst es sehen, keine Medikamente mehr…. Gemeint sind damit einmal Zeremonien mit heiligem Wasser durch Priester und Besuche bei traditionellen Medizinern und Heilern. Die Menschen hier sind zutiefst gläubige orthodoxe Christen und glauben an ihre traditionellen Heiler und deren Medizin.

    Nun habe ich bereits Videos von solchen Veranstaltungen gesehen, wo nach der Zeremonie Lahme plötzlich ihre Gehhilfen wegwerfen und loslaufen. Gott sei gepriesen. Von der Glaubwürdigkeit des ganzen konnte mich das wenig überzeugen. Wer nur ein Bein hat, dem wird auch mit heiligem Wasser kein zweites plötzlich nachwachsen. Bei meiner letzten Reise vor einem Jahr, als mich Daniel (unser Fahrer damals), Tigist, Asmerom und alle weiteren Bekannten und Verwandten meiner 2. Familie, Freund Muller ausgenommen, wieder einmal davon zu überzeugen versuchten: „Geh zum heiligen Wasser“, sagte ich mir irgendwann: So what, why not? Was kannst du verlieren? Wenn es auch nichts bringen wird, hast du dennoch neue Eindrücke gewonnen und Erfahrungen gemacht, die andere so schnell und easy nicht bekommen. Also tue es. Leider war aus Zeitgründen damals das nicht mehr organisierbar. Dafür war es diesmal fest eingeplant. Ja, ich gestehe, EIN Grund meiner erneuten Reise war, dieses verpasste Ereignis von damals nachzuholen. Und hier bin ich und kann sagen: Ich habe es getan.

    Wir warten vor der Praxis eines Habesha Arztes, eines traditionellen Heilers. Manche würden vielleicht Schamane dazu sagen. Mein Freund Mehrtab sagte mir, er wäre ein Abba, was noch eine Stufe höher als ein Priester ist. Es ist 2.30 Uhr und die Eingangstür wird geöffnet. Alles drängt sich durch die Tür. Drinnen ein Innenhof, viereckig mit Stühlen für die Wartenden. Die Leute verteilen sich auf die Stühle und im Hof. Dann kommt ein junger Afrikaner mit einer Kladde und notiert Namen. Einige wurden wieder weggeschickt. Unsere 4 Namen landeten auf der Liste. Dann hieß es drei Stunden warten, bis ich aufgerufen wurde.

    vom Eingang der Praxis aus aufgenommen

    Der Heiler war ein schmächtiger junger Mann mit Brille vielleicht um die 40 in einem grauen Anzug. Er hatte was von einem UNI-Professor. Er war somit völlig anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte.

    Er befragte mich über Namen, Geburtsort, Namen der Mutter, ob ich der Erstgeborene sei, welche Blutgruppe ich habe, wie lange ich die Schmerzen schon habe, ob mehr links oder rechts. Wo ich dann natürlich sagte, ich habe überhaupt keine Schmerzen, sondern die Schaltzentrale oben funktioniert nicht mehr wie sie soll.

    Ihr müsst wissen, in der trad. afrik. Kultur und Medizin definiert sich krank sein über Schmerz oder etwas Sichtbares. Kein Schmerz = gesund.

    Na jedenfalls hatte er als einzige medizinische Ausrüstung ein kleineres rotbraunes, ziemlich abgegriffenes Buch, in welchem er hin und her blätterte. Ich konnte Rundtabellen sehen. Er glich offenbar die Patientendaten mit diversen Tabellen ab, so erschien es mir. Und als Ergebnis kam heraus, er kann mir helfen. Ich hätte Glück, ich werde wieder gesund 100%ig. Bevor ich wieder nach D zurückfliege. Ich bekomme Medizin. Entweder in Addis oder in Mekele, wo das hin geliefert werden kann. Aber, ich dürfe ein Jahr keinen Alkohol trinken. Er erwähnte allerdings nicht, welcher Art die Medizin ist und wie sie eingenommen wird. Ich fragte dann nach, für welchen Zeitraum die sei. 3 Tage. Alles über meinen Freund als Dolmetscher. Der bekam dann eine Telefonnummer. Auch wurde nicht darüber gesprochen, wie ich mit meinem Medikamentenplan verfahren soll.

    Ich hatte, damit er auch sah, was bei mir nicht stimmte, meine morgendliche Dosis ausgelassen. Deshalb ging es mir am Vormittag recht mies. Ich päppelte mich draußen erst mal wieder mit meinen Tabletten auf, damit ich überhaupt eigenständig laufend dort wegkam. So um Mittag herum waren wie alle vier durch. War erst einmal eine interessante Erfahrung. Ganz so zuversichtlich wie Mehrtab und der Heiler bin ich ja nun nicht. Na dann schaun mer mal.

  • 18./19. Jan. - Abiy Adi

    Jetzt Mittagessen und danach sind wir auch gleich aufgebrochen. Zusammenpacken und auf nach Mekele. Weil meine große Reisetasche immer extra kostet, hat mir Mehrtab einen leeren Rucksack von sich gegeben. Ich habe dann den Inhalt der Tasche geteilt. In was kann zurück und was muss mit. Und dass innerhalb von 15 Min. Ab jetzt reise ich mit nur zwei Rucksäcken mit dem Allernötigsten hier in Afrika herum. Travel light. Bereits zum zweiten Mal. Diesmal gewollt. Die Tasche nimmt Haben mit zurück nach Shire. Er muss nach Addis, sein Visum läuft ab. Und ich fühle mich mit so wenig Gepäck ziemlich nackt. Ich muss mir ne Liste machen. Mein Gepäck zerstreut sich so langsam. In Addis, bei Helen habe ich eine Medikamentennotfallbox gelassen. Dann ist noch Wäsche in Shiraro geblieben, die noch nicht fertig war. Jetzt die Reisetasche. Komme mir vor, wie Hans im Glück. Weiterhin stelle ich fest: Tigray gehört MIR. MIR ALLEIN. Seit ich vor fast zwei Wochen in Shire aus dem Flugzeug gestiegen bin, habe ich kein weißes Gesicht mehr zu sehen bekommen. Und auch kein Gelbes.

    Wir begeben uns zum zentralen Busplatz, wo sich unsere Wege trennen. Mehrtab, Helen und ich suchen ein Sammeltaxi nach Mekele, Haben fährt mit einem anderen sowie meiner nur noch halbvollen Reisetasche zurück nach Shire. Wir müssen eine Weile warten, bis unser Bus genügend Fahrgäste hat. Feste Fahrpläne gibt es nicht. Das Fahrzeug fährt los, wenn der Fahrer meint, es ist voll. Früher nicht. Unterwegs, aber noch in Shire, als wieder ein wenig Platz geworden ist, kommt ein Fahrgast mit zwei Ziegen, der nach Mekele möchte. Die Ziegen werden verschnürt und kommen unter Gemecker auf´s Fahrzeugdach. Außerdem hat mein Sitznachbar linker Hand zwei lebende Hähne irgendwo unter dem Sitz. Jedenfalls fängt es nach geraumer Zeit an unten zu gackern, später kommen die in Stimmung und beginnen auch zu krähen. Ich habe mächtig Spaß. Dies ist meine geilste Busfahrt ever. Unterwegs an einem der Haltestopps versorgen Kinder die Reisenden mit Snacks, Wasser u.a. Ich kann es mir nicht verkneifen, eine Flasche Joghurt zu kaufen. Also jetzt kein Fertigprodukt aus der Kühltheke, sondern in Wasserflaschen abgefüllten Joghurt unbekannter Herkunft und definitiv nicht aus der Kühltheke. Weil dort wo wir gerade sind, wird es im Umkreis von vielen km keine Kühltheken geben, da bin ich mir ziemlich sicher. Der Joghurt wird auch sofort verkostet. Auch mein Freund greift zu, probiert und befindet ihn für gut. Was soll man sagen, ich habe das Zeug auch vertragen.

    Während der weiteren Fahrt, an einer Serpentinenstelle, fallen mir am Straßenrand kleine rote Schilder auf, die so 50cm über dem Boden da herumstehen. Immer wieder in Abständen, links sowie rechts der Straße. Auf den Schildern ein Totenkopf. Hier wird vor Landminen gewarnt, welche immer noch verbuddelt im Gelände abseits der Straße liegen. Ansonsten sind mir während meines ganzen Aufenthalts in Tigray nur wenige sichtbare Zeugnisse des Bürgerkriegs aufgefallen. Gelegentlich ein ausgebranntes Militärfahrzeug oder eine übriggebliebene Geschützlafette und hier und da in den Ortschaften in den Wänden Einschusslöcher. Wegen der Ziegen müssen wir 6x extra stoppen. Denen ist es da oben wohl zu ungemütlich, denn sie strampeln sich immer wieder frei, zu hören, wenn sie mit ihren Hufen auf das Dach hämmern. Dann heißt es anhalten, raufklettern und neu verzurren.

    Am späten Nachmittag kommen wir in Mekele an und Mehrtab begibt sich auf Zimmersuche für uns drei. Er wird schnell fündig und wir checken ein, danach gibt es Abendessen, bei dem der Strom ausfällt und die nächsten 24h nicht wiederkommt. Auch mit dem Wasser aus der Dusche sieht es schlecht aus.

  • Bei meiner letzten Reise vor einem Jahr, als mich Daniel (unser Fahrer damals), Tigist, Asmerom und alle weiteren Bekannten und Verwandten meiner 2. Familie, Freund Muller ausgenommen, wieder einmal davon zu überzeugen versuchten: „Geh zum heiligen Wasser“, sagte ich mir irgendwann: So what, why not? Was kannst du verlieren? Wenn es auch nichts bringen wird, hast du dennoch neue Eindrücke gewonnen und Erfahrungen gemacht, die andere so schnell und easy nicht bekommen. Also tue es.

    Ja! Natürlich ist fraglich, was Erscheinungen wie Placebo-Effekte bei deiner Krankheit ausrichten können, aber in solcher Atmosphäre, und Äthiopien ist ja auf eigene Art ebenso spirituell wie Indien, daher kenne ich das, denke ich schon, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt als mit Wissenschaft messbar ist. Man denke nur daran, wie Kinder sich besser fühlen, wenn die Mama über eine Wunde pustet oder einfach ein Pflaster draufklebt.

    Dennoch ist es schon auch so, dass mit so etwas auch eine Menge Geld gemacht wird. Ich zumindest bekomme von dem kleinen Priester, den ich in Varanasi kennengelernt habe, immer noch Nachrichten, dass ich 12 Brahmanen speisen solle und dass mir das helfen würde, glücklich zu sein. Stimmt ja in gewisser Weise auch, man fühlt sich ja auch gut, wenn man etwas Gutes getan hat...

    "Your soul was born in India!"

    (Vinod zu mir in Gujarat im März 2023)

  • Komme mir vor, wie Hans im Glück.

    Sehr gutes Beispiel! Ich mache es ja inzwischen auch bewusst so, dass ich mit leichtem Gepäck reise. Und wenn ich dann wieder zu Hause bin, frage ich mich, warum an so ziemlich jeder freien Wand bei mir ein Schrank oder Regal mit Zeug drin steht...

    Unterwegs, aber noch in Shire, als wieder ein wenig Platz geworden ist, kommt ein Fahrgast mit zwei Ziegen, der nach Mekele möchte. Die Ziegen werden verschnürt und kommen unter Gemecker auf´s Fahrzeugdach. Außerdem hat mein Sitznachbar linker Hand zwei lebende Hähne irgendwo unter dem Sitz. Jedenfalls fängt es nach geraumer Zeit an unten zu gackern, später kommen die in Stimmung und beginnen auch zu krähen. Ich habe mächtig Spaß.

    Ha ha, da wäre ich gern dabei gewesen. Ich glaube, ich hätte auch Spaß gehabt!

    "Your soul was born in India!"

    (Vinod zu mir in Gujarat im März 2023)

  • .... denke ich schon, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt als mit Wissenschaft messbar ist.

    Jo. Der graue Kasten da oben birgt für die Wissenschaft noch jede Menge Rätsel. Wenn ich an inselbegabte Autisten denke, die mit Rechenleistungen aufwarten können, wofür Professoren Rechentechnik benötigen. Oder rund um das Thema Hypnose. Oder wenn etwa bei Verletzungen am Gehirn, andere Hirnbereiche übernehmen.

  • 20. Jan. – Timket in Mekele

    የጥምቀት በዓል, das Fest der Taufe Jesu ist heute, eines der wichtigen kirchlichen Feste in der äthiopisch-orthodoxen Kirche. Ich durfte es bereits einmal 2021 in Gonder mitfeiern. Jetzt also in Mekele. Hier war ich schon 2019, bei meiner allerersten Reise. Allerdings mehr auf Durchreise, denn Mekele ist auch Ausgangspunkt und Ankunftsort für die Ausflüge nach Afar und in die Dankil-Senke. Damals wollte ich noch „zu dem Denkmal mit der Kugel oben drauf“, woraus dann nichts mehr geworden ist.

    Aber zuerst einmal gibt es Frühstück. Danach gehen wir zur nahe gelegenen Kirche Sankt Michael. Dort herrscht bereist dichtes Gedränge. Die Priester verspritzen gesegnetes Wasser und alle wollen davon etwas abbekommen. Helen hält sich zurück. Ins Gedränge möchte sie nicht. Also schieben wir uns beide allein nach vorn zum gesegneten Wasser. Was für eine Drängelei. Da sind Mütter und Väter mit ihren Kindern, die tief unten in der Menge stehen und sich schön an den Eltern festhalten. Die Menschenmenge wabert hin und her. Wenn es hier zu einer Massenpanik kommt, sind wir erledigt. Der Priester hält den Wasserstrahl in die richtige Richtung, wir bekommen eine Dusche und können den Rückweg antreten. Uns vorbeischiebend an jene, die nach vorn drängen. Dann sind wir frei. Einmal tief durchatmen.

    Danach besuchen Mehrtab und ich noch die Kirche und gehen hinein.

    Außerhalb der Kirche geht Mehrtab noch direkt zu einem der Priester, um sich segnen zu lassen. Ich filme mit, aber habe leider einen Finger vor der Linse. Das Video ist unbrauchbar, bis auf einige wenige Frames. Und einer davon ist richtig klasse.

    dieses Bild hat eine Aura

  • 20. Jan. – Timket in Mekele

    Wir sammeln Helen ein, die geduldig auf uns gewartet hat und lassen uns mit Tuc-Tuc zu einer Mall fahren. Mehrtab möchte gern ein wenig shoppen. Er probiert Pullover und Schuhe, aber die Preise sind viel zu hoch. Wir versuchen es außerhalb der Mall in den Seitenstraßen weiter. Schließlich landen Helen und ich in einem Buna-Lokal. Wir bleiben dort und Mehrtab zieht allein los. Wir sitzen goldrichtig. Draußen kommt die Prozession mit den Reliquien vorbei. Die Heiligtümer sind auf dem Weg zurück in ihre Kirchen. Ein Schauspiel für sich.

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    Dabei treffe ich auch zwei Ferenjis. Jawohl, zwei andere. Es sind Spanier, wie ich mir neugierig erfrage, unterwegs mit ihrem Guide. So habe ich vor ein paar Jahren auch auf die Umstehenden gewirkt. Touris eben, zu erkennen mit einem Blick. Das sieht inzwischen anders aus. Ich sehe anders aus, in touri-untypischem Outfit mit meinen äth. Armschmuck und ich trete ganz anders auf im Land. Für einen Touri bin ich schon seit langem nicht mehr gehalten worden. Dagegen ist es mir bereits passiert, dass Touris mich gefragt haben, ob ich hier lebe. Ich muss zugeben, ein wenig stolz bin ich schon, wenn ich SO auf andere wirke. Nun, mag auch daran liegen, dass ich in Zeiten und Gegenden reise, wo kein Tourist sich so richtig hin traut. Ich nenne es antizyklisch Reisen. Fahre in die Gegenden wo gerade „Frieden?“ …. nun sagen wir „nicht Krieg“ ist und meide jene Gegenden, wo man sich aktuell die Köpfe einschlägt. Tausche Tigray gegen Amhara. Wenn die Leute mir „Hey Ferenji“ zurufen, geht das völlig in Ordnung, dann rufe ich „Hey Habesha“ zurück. Nur für den Zuruf „Tschaina Tschaina“ ist mir noch kein passender Spruch eingefallen. Aber das rufen nur die Kinder, die mehr Chinesen gesehen haben und den Unterschied noch nicht kennen.

    Mehrtab ist zurück. Wir brechen auf. Nächste Station mit Tuc-Tuc zum Märtyrer-Monument, dem Denkmal für die Gefallenen und Verwundeten Tigrayer in den letzten Kriegen (Derg und Eritreakrieg). Also „zu dem Denkmal mit der Kugel oben drauf“. Schon beeindruckend, wenn auch die Anlage vernachlässigt aussieht und einen verwilderten Eindruck macht. Da fehlt es sicher am Geld derzeit. Am Eingang ein Soldat, der den Eintritt kassiert und die ID der Besucher einbehält, bis sie wieder hinausgehen. Es sind nur ganz wenige Besucher hier. Ich darf meinen Pass mitnehmen, nachdem er einen kurzen Blick hineingeworfen hat. Hier machen wir alle drei jetzt richtig viele Fotos, bevor wir uns auf den Weg zurück zum Hotel machen. Helen und Mehrtab toben sich selfiemäßig richtig aus.

    Im Hotel gibt es immer noch keinen Strom für die Zimmer. Aus der Dusche kommt wenigsten ein wenig Wasser. Die Küche und das Lokal scheinen an einem Generator zu hängen. Dort ist es voll und laut. Nein, hier mag ich nicht essen. Ich suche mir ein paar 100m entfernt etwas Ruhiges. Die haben zwar kein Licht, aber stellen mir eine Kerze auf den Tisch. Danach schlendere ich zurück und bleibe im Zimmer. Dehna idir liebe Leser.

    LAS - mitunter bekommt man auch so etwas. Für 300 Birr darf man die Erwartungen nicht zu hoch ansetzen.