Ich fluche innerlich wie ein Rohrspatz. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich mit dreckigem Hosenboden, mistig und keimig in ein feines Hotel einchecken.
Für mich erfüllt sich gerade ein Traum, nur das dieser sich ziemlich schnell zum Alptraum wandelt.
Die Tokaido wird besonders in der Edo-Zeit (nach 1600) zu DER wichtigsten Überlandstraße Japans. Sie verbindet die alte Kaiserstadt Kyoto mit der Hauptstadt des Shogun in Edo. Zwar waren die Klassenschranken in jener Zeit fest zementiert, doch dem einfachen Volk war das Reisen zu Schreinen und Tempeln mit entsprechenden Genehmigungen durchaus erlaubt, und die Japaner nutzten die Möglichkeit mit Wonne. So entstand bald eine regelrechte Reiseindustrie. Wagen mit Rädern waren verboten, das Reiten im Galopp nur den Boten des Shogun erlaubt. So war vom Bauer bis zum Fürst (gut, der wurde in Sänften getragen) jeder zu Fuß unterwegs (ausgenommen Packpferde, und Mietpferde für "Schrittgeschwindigkeit"). Deshalb entstanden an den Überlandstraßen unzählige Gasthäuser und Poststationen. Die regionalen Besonderheiten wurden schon früher in Reiseführern abgebildet und beschrieben. So entstanden die "tausend Bilder", also die Manga auf Holzschnittbasis. Mit dem Gastgewerbe florierte der Handel, Glücksspiel, Prostitution, Kabuki und die Yakuza.
In unzähligen Romanen wird die Tokaido erwähnt, und seit Kindheit an war es ein Traum von mir, ein Stück dieser historischen Straße zu gehen. Und nun stehe ich hier, laufe wie ein 90jähriger Cowboy breitbeinig und steif in ständiger Angst, einen Salto zu schlagen. Die uralten, unregelmäßigen Pflastersteine, in Japan Ishidatami genannt, sind mit einer dicken Schicht Algen bedeckt, die den alten Weg glatt wie Schmierseife macht. Und dabei geht es immer wieder ordentlich hoch, und wieder recht steil runter. Ich überlege, ob die alten Strohsandalen vor mehreren hundert Jahren mehr Gripp hatten, wie meine teuren Treckingschuhe. Ganz offensichtlich, denn das Stück der Tokaido galt nicht wegen ihrer schlechten Begehbarkeit als gefährlich. Wegen des schwierigen Terrains und des dunklen Walds war es ideal für Räuber und Banditen, um Reisende zu überfallen und sich vor den Behörden zu verstecken.
Und noch eins: an der Pazifik-Seite war es der einzige begehbare Zugang nach Odawara, in die Musashi-Ebene und damit nach Edo. Letztendlich eignete sich eine Stelle in Hakone-Moto bestens für das Tokugawa-Shogunat, um hier ein strengen Checkpoint am Ashi-See einzurichten, den man kaum umgehen konnte.
Der Ashi-See. Vielen wissen nicht, dass der vom Pazifik nur 17 Kilometer entfernte, aber schon etwa 730 Meter hoch liegende gut 7 Kilometer lange See die Caldera des Hakone-Vulkans ausfüllt. Wäre dieser Vulkan nicht vor 3000 Jahren explodiert und in sich zusammengebrochen, hätte der nahe Fuji vielleicht eine ernsthafte Konkurrenz bekommen. Der am östlichen Ufer stehende Hakone-Komagatake ist mit etwa 1.350 Metern das höchste Überbleibsel. Das nahe Höllental Owakudani, einer der beliebtesten Tourispots und mit der Seilbahn erreichbar, zeugt immer noch von der vulkanischen Aktivität des "Trümmerhaufens". Und so haben sich hier viele Onsen-Hotels angesiedelt, und eines davon möchte ich mit sauberen Klamotten erreichen.
Der Tag hat wieder mal viel zu spät angefangen. Dann suchen wir verzweifelt in Shinjuku das Odakyu-Büro um den Hakone-Pass-Voucher einzulösen. Im Bahnhof Shinjuku finden gerade Umbau Arbeiten statt, und das Odakyu-Büro ist umgezogen.
Beim Einlösen des Vouchers fragte man uns, ob wir die Romance-Car Variante nehmen wollen, hier aber noch zuzahlen müssten. Wir entschieden uns dagegen, tatsächlich hätten wir aber viel Zeit gespart und die 2 Tage Hakone wären dann auch nach Plan verlaufen.
Von Hakone-Yumoto nahmen wir den Bus. Eigentlich wollte ich mehr der alten Tokaido laufen, doch die Zeit drückte und wir stiegen direkt beim Amazake-Teehaus aus.
Dieses Teehaus, welches 2009 restauriert wurde und (ich habe nichts Gegenteiliges finden können) tatsächlich seit 350 Jahren hier steht, ist ein Relikt der alten Zeit. Es wird angeblich seit 13 Generationen von einer Familie geführt und man kann sich hier wie ein Reisender vor 200 Jahren fühlen.
Danach folgte die Eingangs beschriebene Schlitterpartie nach Hakone-Moto.
Völlig unerwartet ohne dreckigen Hosenboden angekommen verzetteln wir uns am falschen Anlege-Steg. Der richtige befindet sich 200 Meter weiter. Ich und Frau eilen hin, denn das Schiff steht schon bereit. Aber wo sind Tochter und Freund? Weg! Die Frau am Ticket-Schalter sieht uns fragend an. Ich muss telefonieren. "Wo seit Ihr? Das Schiff legt gleich ab!! Ahh....ohhh...aha...toll!" Sie stehen gerade irgendwo an um sich ein Eis zu kaufen, teile ich meiner Frau mit. Wir bedanken uns bei der Schalter-Dame und winken dem ablegenden Piratenschiff hinterher. Von weitem sehen wir unsere Tochter nebst Freund, jeder ein Eis in der Hand heranschlendern. In einer Stunde fährt das nächste (und vorletzte) Schiff, jetzt können wir uns ein Eis kaufen...
Warum wieder unsere Eile? Es war ja erst etwa 14:30 Uhr und RICHTIG!!! 16:30 Uhr stellen die Seilbahnen ihren Betrieb ein. In einer Stunde legt das nächste Schiff ab, eine halbe Stunde Fahrt. Zwei mal umsteigen mit den Seilbahnen, Owakudani gucken und dann die Kabelbahn nach Gora? Vergiss es.
Also testen wir einen örtlichen Bäcker. Mehr wollen wir nicht essen, denn wir freuen uns auf ein Mehr-Gänge-Menü in unserem Hotel in Gora.
Die Fahrt auf dem spiegelglatten Ashi wird unvergesslich. Die herbstlaubfarbenden Hänge färben sich in der Abendsonne kupferrot. Der Fuji präsentiert sich wolkenfrei und majestätisch.
Wir kommen in Togendai an, als es bereits dämmert. Wir entern eines Bus, der auch Gora anfährt. Der wird im Laufe der Fahrt so knüppeldicke voll, dass ich Sichtkontakt zu den Rest der Familie verliere und selbst auf einen Notsitzplatz mit 30 cm Höhe für Omis und Opis eingeklemmt dahinvegetiere. Bei jeder Haltestelle lässt der Busfahrer eine nächste "Fußballmannschaft" rein, hai dozo, hai dozo, hai dozo und etwas anderes, womit er die Fahrgäste auffordert, mehr zusammenzurücken. Ich habe weder Ahnung wie ich jemals aufstehen, noch aus diesem Bus herauskommen soll. Laut Google Maps müssten wir die nächste Haltestelle aussteigen. Das sieht der Rest der im Bus verschollenen Familie zum Glück genauso. Irgendwie gelingt uns das herausquetschen in das mittlerweile stockfinstere Irgendwo. Kein Fußweg, wir stehen irgendwo an einer Kurve einer Strecke, die sich serpentinenartig einen Hang heraufwindet. Der Bus hat einen Rattenschwanz an hinterherfahrenden Autos erzeugt. Wir müssen über die Straße. Jetzt! Nee warte, da kommt noch ein Bus! Äh, hatte der nicht eben die gleiche Nummer wie unserer? Jupp! Da saßen vielleicht 5 Hanseln drin! Na Klasse...
Fortsetzung folgt...